„Es ist nicht weniger als die größte Lebenslüge der Bundesrepublik: der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit,“ fasst der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn das deutsche Erinnern an den Nationalsozialismus prägnant zusammen. Am 8. Mai jährt sich zum 77. Mal der so genannte Tag der Befreiung und damit einer der Tage, an denen in Deutschland kollektiv der Zeit des Nationalsozialismus gedacht wird. Wir haben rund um den 8. Mai eine kleine Veranstaltungsreihe organisiert, die sich mit dem kollektiven Gedenken in Deutschland kritisch auseinandersetzt. Hierzu haben wir verschiedene Referent:innen eingeladen, die eine Kritik an der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen und dabei verschiedene Schwerpunkte setzen:
• 02.05. (20 Uhr, UJZ Korn): „Jüdische Widerständigkeit heute und damals“ (Vortrag mit Monty Aviel Ott und Ruben Gerczikow)
• 07.05 (15 Uhr, Lindener Marktplatz): „Rotes oder braunes Linden? (Stadtteilrundgang mit Patrick Bredl und Till Ewald)
• 11.05. (19 Uhr, Elchkeller): Zur Kritik der Gedenkperfomance in Deutschland“ (Vortrag mit Hanna Veiler)
Ruben Gerczikow und Monty Aviel Ott beschreiben, dass neben der Erinnerung an die Shoa in Teilen einer nichtjüdischen Gesellschaft ebenso eine Abwehr bzw. Instrumentalisierung dessen zu beobachten sei. Dies offenbare sich durch das Unwissen alltäglicher jüdischer Erfahrungen, das Verharmlosen antisemitischer Gewalt oder das Negieren der eigenen Täter:innengeschichte. In ihrem Vortrag widmen sie sich dementsprechend einem Phänomen, „das weder im erinnerungskulturellen noch im politischen Rahmen bisher eine breitere Rezeption erlebt hat“: der jüdischen Widerständigkeit.
Zur kollektiven Kultur des Erinnerns gehört auch im „roten“ Linden das Narrativ, dass es möglich war, Opposition gegenüber Nazis zu ergreifen. Aber auch hier kommt es zu einer Verklärung der Historie, denn hier wird der „nationalsozialistische Alltag oder der Bereitschaft der Arbeiter*innenschaft die NS-Ideologie zu übernehmen“ in Linden ausgeblendet. Patrick Bredl und Till Ewald wollen mit einem Stadtteilspaziergang anhand von Orten nationalsozialistischer Politik und Orten des Widerstands einen Blick auf die Vielfältigkeit Lindens während des Nationalsozialismus werfen.
Für Hanna Veiler stellt sich die Erinnerung in Deutschland als einen performativen Akt dar: Die deutsche Gedenkperfomance, die sich an den Tagen wie dem 27.1. oder dem 8. Mai zeigt, manifestiere sich durch omnipräsente #NieWieder-Posts oder das kollektive Stolpersteine-Putzen. Dabei führt sie in ihrer Kritik vielfältige Ansatzpunkte an, „die Aufrichtigkeit des Erinnerns“ anzuzweifeln: Sei es beispielsweise die Annahme der Deutschen, die deutsche Bevölkerung hätte primär unter dem Nationalsozialismus gelitten oder die Überzeugung vieler, dass die eigenen Vorfahren Verfolgten geholfen hätten.
